Volkskundliche Perspektiven auf Ausprägungen der Jugendbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

Volkskundliche Perspektiven auf Ausprägungen der Jugendbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

Organisatoren
Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V.
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.09.2016 - 16.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Linzner Felix, Universität Marburg

Jugend und Jugendbewegung standen zuletzt vielfach im Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzung und dies nicht nur aus Perspektive der Volkskunde sowie ihrer Nachbar- und Folgedisziplinen. Der Blick auf das östliche Europa und die damit verbundene thematische Engführung ermöglicht es, Vergleiche zwischen der Organisation, den politischen, ideologischen sowie alltagskulturellen Grundlagen jugendbewegter Gruppen und Organisationen zu ziehen. Besonders die Frage nach der Identifikation der sogenannten Auslandsdeutschen und die Mobilisierung dieser durch Jugendbewegte befanden sich dabei im Mittelpunkt der Tagung. Fokussiert wurde vor allem die Zwischenkriegszeit, doch sollte der Untersuchungszeitraum bis in die Gegenwart reichen und sowohl feldforschende, als auch historisch-ethnographische und diskuranalytische Methoden umfassen.

Dass die präsentierten Themen direkt mit der Fachgeschichte der Volkskunde verquickt sind, machte bereits der Einführungsvortrag von KARL BRAUN (Marburg) deutlich. Nicht nur der Einsatz der Jugendbewegten für das vermeintliche Deutschtum wurde hervorgehoben, sondern vor allem der Einfluss, der sich etablierenden Ostforschung. Sie wurde als transdisziplinäre Einheit aus Kultur-, Sozial- und den Lebenswissenschaften betrachtet. Volkskundler wie Gustav Jungbauer, Emil Lehmann und weitere verstanden sich dabei als „Volksbildner“ und arbeiteten eng mit Sprachinselforschern und jugendbewegten „Ostlandfahrern“ zusammen.

Den Einfluss der deutschen Jugendbewegung auf die Slowakei stellte HEINZ SCHMITT (Karlsruhe) heraus. Im Baltikum, Banat, in Südtirol, Böhmen und Mähren bildeten sich mehrere Gruppen mit klarer deutsch-nationaler Ausrichtung heraus. Besonderen Einfluss hatte der Sudetendeutsche Wandervogel. In der heutigen Slowakei waren es die Karpatendeutschen, die von Wandervögeln, Pfadfindern und Staffelsteinern in ihrer deutschen Identität gestärkt werden sollten. Der durchaus positive Bezug zu Ungarn, den viele Karpatendeutsche hatten, galt dem Deutschtum als unzuträglich.

Ähnliche „Volkstumsarbeit“ wurde auch von sudetendeutschen Jugendbünden in der neu gegründeten Tschechoslowakei betrieben. So verstanden sich nicht nur der Deutsch-Bömische und der Sudetendeutsche Wandervogel als „nationale Schutzvereine“, die der Identitätskrise den „Dienst am Volkstum“ gegenüber stellten. Der Vortrag machte den Einfluss des Othmar Spann Kreises und Konrad Henleins deutlich sowie die Heranführung einer national-bürgerlichen Jugend an volkspolitische Arbeit. Gleichzeitig existierten in der sozialistischen Jugend Pläne zur Schaffung einer neuen sozialistischen Gemeinschaft, deren Grundlage ein „neuer Mensch“ sein sollte. So leiteten TOMÁS KASPERs (Liberec) Ausführungen zu MAREK WAIC (Prag) über, welcher deutsche und tschechische Jugendorganisationen verglich. Eine herausragende Rolle spielte dabei, der aus der Turnerbewegung Sokol hervorgegangene Junák český skaut. Anders als die bereits erwähnten deutschen Bünde, orientierten sich die tschechoslowakischen am englischen Scouting und am amerikanischen Woodcraft. Sie standen dem Staat zwar positiv gegenüber, dennoch bestand ein Generationenkonflikt, der sich von Seiten der Jugend durch Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Massenkultur und zum Establishment äußerte.

Die Freie Stadt Danzig und speziell die Technische Hochschule Danzig als deutschsprachige Einrichtung zeigen als Mikrokosmos den Diskurs um „Deutschtum“ und „Polonisierung“ auf. ADRIAN MITTER (Toronto) beschrieb, wie die Hochschulleitung versuchte, Jugendliche deutscher Minderheiten und des Reichsgebiets für ein Studium zu gewinnen. Gleiche Bemühungen gingen auch von den polnischen Studentenverbänden aus, die ihre Landsmänner mobilisieren wollten. Als Antwort auf die Deutsche Studentenschaft gründete sich der polnische Studentenverband Bratnia Pomoc. Innerhalb der Staatszugehörigkeiten kam es teilweise zu erheblichen Spannungen, was nicht nur der Danziger Hochschulführer 1927/28 exemplarisch belegt. Mitter zitierte: „So bildet Danzig heute ein deutsches Bollwerk gegen die anstürmende slawische Flut.“ 1939 werden die Polnischen Studierenden der Hochschule verwiesen. Dass die Repression der deutschen Studenten und der Hochschulleitung aber nicht immer so drastisch war, zeigen die rund 1.000 polnischen Absolventen im beschriebenen Zeitraum.

Einen Blick auf die Jugend bei den Ungarndeutschen warf ZSOLT VITÁRI (Pécs). Nach dem Ersten Weltkrieg und unter der Leitung Miklós Horthys standen die ethnische Homogenisierung und der Aufbau eines ungarischen Nationalstaates im Vordergrund. Dies spiegelte sich auch in der Staatsjugend Leventék wider, die einen durchaus nationalistischen und paramilitärischen Charakter hatte. Gleichzeitig erschwerte die strenge Minderheitenpolitik die Gruppenbildung innerhalb der größten Minderheit im Land, den Ungarndeutschen. Eine Mobilisierung der ungarndeutschen Jugend erfolgte größtenteils von außen, also durch den Wandervogel und später die Hitlerjugend. Die sogenannte Kameradschaft um Franz Basch gründete am 26. November 1938 den Volksbund der Deutschen in Ungarn und auch die angegliederte Volksbundjugend. Vitári ging besonders auf die Spannungen zwischen ungarischer Staatsjugend, reichsdeutschen Jugendgruppen und den Organisationen der Ungarndeutschen ein.

Dass der Einfluss Reichsdeutscher Jugendbünde besonders in der Zwischenkriegszeit bedeutend war, zog sich als roter Faden durch die länderspezifischen Vorträge. FRIEDERIKE HÖVELMANNS (Leipzig) beleuchtete die Sächsische Jungenschaft, als eine dieser Gruppierungen. Die Jungenschaft etablierte sich als Untergruppierung der Deutschen Freischar und ist vor allem wegen des ausgeprägten Fahrtenlebens interessant. So waren neben Schweden auch das Banat, die Batschka, die Schwäbische Türkei, das Gottscheer Land und andere Gebiete im SHS-Königreich und Ungarn Ziel der Abenteuer- und Grenzlandfahrten. Der Zweck reichte dabei von Forschung und Recherche über jugendliche Abenteuerlust bis hin zur „Volkstumspflege“. Gepflegt wurden vor allem Kontakte zu deutschen Minderheitensiedlungen und zu „Volksdeutschen“ in Ungarn. Dass es sich dabei immer auch um eine Mischung aus „Deutschtümelei“ und jugendlicher Begeisterung handelte, machte Hövelmanns deutlich. Dies liege nicht zuletzt an den jugendlichen Akteuren selbst.

Auch am Beispiel der Fahrten des katholischen Bundes Neudeutschland wurde deutlich, dass die sogenannte völkische Schutzarbeit verstärkt ins Blickfeld reichsdeutscher Jugendbewegter rückte. Die Mitglieder des Neudeutschlandbundes gingen ab 1928 beinahe jährlich auf Fahrt nach Nordwest-Rumänien, um dort mit der Minderheit der Sathmardeutschen in Verbindung zu treten. Diese deutsche und zudem katholische Minderheit befand sich außerhalb der Reichsgrenzen in einem reformiert oder griechisch-katholisch dominierten Terrain. HANS-WERNER RETTERATH (Freiburg) zeichnete nach, wie deutsches Liedgut, Volkstanz und Spiel sowie die Identifizierung mit der deutschen, beziehungsweise schwäbischen Sprache durch die Mitglieder des Neudeutschlandbundes im Sathmargebiet forciert wurden. Nach Retteraths Ansicht bildete sich eine gut geplante und zielgerichtete „Deutschtumsarbeit“ aus.
Dies wurde als Grundlage für den nationalsozialistischen Volkstumskampf eingenommen, der den Bund Neudeutschland sowie die führende Persönlichkeit Hugo Moser verdrängte.

Innerhalb der Jugendbewegung nimmt die Fahrt einen erheblichen Stellenwert ein und ist ähnlich identitätsstiftend wie Habitus, Kleidung und bestimmte Codes. Dass gleiches auch für die Musik und das gemeinsame Musizieren zutrifft, ist hinlänglich bekannt. Dennoch gab FRANZISKA MEIER (Heidelberg) zu bedenken, dass bündische Jugend und Jugendmusikbewegung in der Forschung meist getrennt untersucht werden. Sie nahm Verbindungen und Netzwerke in den Fokus und untersuchte Lieder und Liederbücher mit Osteuropabezügen. Dabei gelang es ihr, einen deutlichen Kultur- und Ideentransfer nachzuweisen, der sich sowohl textlich, als auch musikalisch darstellte. Elemente aus der osteuropäischen Musik wurden in den deutschen Liedern übernommen. Meier beschrieb die Innen- und Außenwirkung dieser Lieder, die Emotionen und Diskurse widerspiegeln. Jugendbewegung, Musik, Ideologie und Politik verschmelzen besonders in der Frage nach dem imaginierten Volkskörper und der „Volkstumspflege“. Diese Topoi bildeten eine gemeinschaftsbildende Kraft.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete für viele Jugendliche den Verlust von Heimat und Elternhaus. Gleichzeitig mussten sie sich innerhalb der Spannungen zwischen Einheimischen und Vertriebenen bewegen. ANNE-CHRISTINE HAMEL (Leipzig) leitete den letzten thematischen Block ein, beginnend mit der Nachkriegszeit. Erste Vertriebenengruppen, getragen von Jugendlichen, gründeten sich meist heimlich und zum Teil in Verbindungen mit Erwachsenenverbänden. Am 8. April 1951 schlossen sich einige dieser losen Gruppen in der Deutschen Jugend des Ostens (DJO) zusammen. Erstmals mit klarer Struktur und Satzung, bildete die DJO einen Interessenverband der vertriebenen Kinder und Jugendlichen aus den ehemaligen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten. Die DJO unterhielt schon in den frühen Jahren Kontakt zu osteuropäischen Jugendgruppen, dennoch trat sie bis in die 1960er-Jahre für die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 ein. Hamel zeichnete nach, wie sich der Rückgewinnungs- und Revanchismusgedanke innerhalb der DJO wandelte. Der gesellschaftspolitische Wandel der 1960er- und 1970er-Jahre spiegelte sich auch in der Vertriebenenjugend wider. Die neue Generation, die die tradierte „Heimat“ selbst nie bewohnt hatte, bewirkte einen Kurswechsel. 1974 kam es zur symbolischen Neuausrichtung und die DJO führte den offiziellen Namen djo – Deutsche Jugend in Europa. Ein Bekenntnis zum friedlichen Europa, Unterstützung der Entspannungspolitik und internationale Jugendarbeit standen fortan im Vordergrund.

Ein Beispiel jugendlicher, ästhetischer Subkultur, wenn auch nicht direkt durch die historische Jugendbewegung beeinflusst, führte ANDRA-OCTAVIA DRAGHICIU (Budapest) an. Ende der 1980er-Jahre bildete sich unter den Siebenbürger Sachsen in der Sozialistischen Republik Rumänien eine eigenständige Szene heraus. Die Vertreter/innen und Anhänger/innen nannten sich selbst Metalisten. Aus dem Westen wurden Kleidung, Musik, Accessoires und szenetypische Wissensformen importiert. Trotz des häufigen Kopierens der westlichen Vorbilder ist den Metalisten eine eigenständige Ästhetik und Inszenierung sowie ein eigenes Szeneverständnis zu bescheinigen. Sie verstehen sich nicht als revolutionäre Gegenkultur und unterliegen nicht den Repressionen der Staatssicherheit, vielmehr nehmen besonders die Musiker eine Vermittlerrolle zwischen Siebenbürger Jugend und dem Staat ein. Drăghiciu machte dies unter anderem an der Band Rocky deutlich. Ein Ideen- und Kulturtransfer wurde herausgestellt, bei dem die Siebenbürger Sachsen auch von ihren Kontakten in die Bundesrepublik und von den Deutschkenntnissen profitieren konnten. Die Texte ihrer englischsprachigen Idole blieben dabei aber wohl weitestgehend ein Geheimnis.

Den abschließenden Sprung in die Gegenwart bildete die Untersuchung der Identitätskonstruktion der jugendlichen deutschen Minderheit in Polen. KATHARINA SCHUCHARDT (Kiel) unternahm dazu eine mehrmonatige Feldforschung in Oppeln (polnisch Opole). Oppeln bildet in gewisser Weise ein Zentrum für die deutsche Minderheit, da viele ihrer Vereine und Institutionen direkt im Ort oder in der Nähe der Stadt beheimatet sind. Der Bund der Jugend der deutschen Minderheit, der seit 1992 besteht, spielt eine zentrale Rolle und nimmt diese auch in der Arbeit von Schuchardt ein. Sie macht deutlich, dass der selbstgesteckte Rahmen, das Ziel, die Kultur der deutschen Minderheit zu stärken und zu vermitteln, in der Konstruktion der jugendlichen Identitäten durchaus eine ambivalente Rolle spielt. Identität zeigt sich vielmehr performativ und verhandelbar. Die deutsche Sprache wird zwar als gewinnbringend angesehen, das Label der deutschen Minderheit nimmt aber eher einen geringen Stellenwert ein, berufliche Chancen und Teilhabe hingegen einen deutlich höheren. Die wechselseitige Verbindung zwischen Jugend und Verbänden bleibt weiterhin die Grundfrage von Schuchardts Dissertation.

Volkskundliche Perspektiven auf die Jugend im östlichen Europa haben sich als breites Forschungsfeld gezeigt, das aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln und aus der Sicht unterschiedlichster Akteurinnen und Akteuren untersucht werden kann. Dabei sind auch der zeitgeschichtliche Wandel und die Rolle der Vertriebenen sowie der deutschen Minderheiten außerhalb des deutschen Staatsgebietes interessant. Dass diese gelungene Tagung auf Burg Ludwigstein stattfand, die bis heute ein Zentrum oder zumindest Bezugspunkt für viele, vor allem bürgerliche Jugendbewegte darstellt, verbindet die Geschichte mit der Gegenwart. Nach dem Zweiten Weltkrieg und vor der Wiedervereinigung war es besonders die Grenznähe, die nicht nur die DJO dazu veranlasste, sich mit der Burg zu identifizieren.
Dass es sich bei dem Diskursfeld um ein äußerst konfliktreiches handelt, besonders im Hinblick auf die Zwischenkriegszeit, die von „völkischer Schutzarbeit“ bestimmt war, wurde ebenso deutlich wie die zwar durchaus unterschiedliche, aber gegenüberstellbare Rolle der jeweiligen Jugendverbände.

Konferenzübersicht:

Karl Braun (Marburg), Jugendbewegte Sozialisation, Auslandsdeutschtum, Ostforschung

Heinz Schmitt (Karlsruhe), Einflüsse deutscher Jugendbewegung in der Slowakei

Tomáš Kasper (Liberec), Die sudentendeutschen Jugendbünde zwischen der Reform des neuen Menschen und der sudetendeutschen „Volkserneuerung“ (1918 – 1933)

Marek Waic (Prag), Die tschechische und deutsche Jugend in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit und ihre Haltung gegenüber dem Establishment

Adrian Mitter (Toronto), Polnische und deutsche Studenten an der technischen Hochschule der Freien Stadt Danzig

Zsolt Vitári (Pécs/Fünfkirchen), Jugend bei den Ungarndeutschen und deren Politisierung in der Zwischenkriegszeit

Friederike Hövelmanns (Leipzig), Die Sächsische Jungenschaft in Südosteuropa

Hans-Werner Retterath (Freiburg), „Völkische Schutzarbeit“ katholischer Jugendbewegter. Die Fahrten des Bundes Neudeutschland in der Zwischenkriegszeit nach Sathmar

Franziska Meier (Heidelberg), Kultur- und Ideentransfer durch Liedgut und bündische Jugend 1918 – 1933

Anne-Christine Hamel (Leipzig), Jugend zwischen Revanchismus und Integration. Von der „Deutschen Jugend des Ostens“ zur „Deutschen Jugend in Europa“ – Die Vertriebenenjugend im Spannungsfeld von Tradition und gesellschaftlichem Wandel 1951 – 1974

Andra-Octavia Drăghiciu (Budapest), Repräsentationsarbeiten und Ausdrucksformen ästhetischer Subkulturen am Beispiel der siebenbürger-sächsischen Jugend in der Sozialistischen Republik Rumänien Ende der 1980er-Jahre

Katharina Schuchardt (Kiel), Jugend und deutsche Minderheit in Polen. Zur Aushandlung von Identität einer jungen Generation im vereinten Europa